Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung in den Polizeigesetzen

Dr. Matthias Losert, LL.M.

Rechtsanwalt

Strausberger Platz 6
10243 Berlin

Fernruf: 030-250 121 25
Mobil: 0179-537 98 71
post@matthias-losert.de

Die meisten Polizeigesetze nennen als Schutzgut neben der öffentlichen Sicherheit auch die öffentliche Ordnung.

1983 strich Bremen die öffentliche Ordnung aus seinem Polizeigesetz. 1989 folgte das Saarland, 1992 Schleswig-Holstein und 1994 Niedersachsen.

Im Jahre 2000 führt das Saarland, im Jahre 2003 Niedersachsen das Schutzgut der öffentlichen Ordnung wieder ein. In Nordrhein-Westfalen können nur die Ordnungsbehörden zum Schutz der öffentlichen Ordnung tätig werden, der Vollzugspolizei ist das nicht erlaubt. 2005 verabredete die CDU mit der FDP in ihrem Koalitionsvertrag, die öffentliche Sicherheit auch in ihrem Polizeigesetz wieder einzuführen, was bis heute nicht geschehen ist.

Es wird eine breite rechtspolitische Diskussion darüber geführt, ob ein polizeiliches Vorgehen zum Schutz der öffentlichen Ordnung rechtmäßig ist. Der Beitrag soll einen Überblick über diese für die polizeiliche Praxis wichtige Diskussion schaffen.

I. Definition

Unter öffentlicher Ordnung versteht man nach allgemeiner Ansicht die Gesamtheit der Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches und geordnetes Zusammenleben betrachtet wird.[1]

II. DER STREITSTAND

a) PRO

Nach Schenke sei darauf abzustellen, dass es viele Gesetze gebe, die an allgemeingesellschaftliche Wertvorstellungen anknüpfen, wie zum Beispiel die § 138 (Sittenwidriges Rechtsgeschäft, Wucher) und § 242 (Leistung nach Treu und Glauben) des BGB. Auch § 33a II Nr. 2 der Gewerbeordnung lasse eine Einschränkung gewerblicher Betätigungen wegen eines Verstoßes gegen gesellschaftliche Wertvorstellungen zu. Schenke führt weiter die Regelung des § 118 I OwiG an, wonach ordnungswidrig handelt, „wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Selbst im Grundgesetz seien Grundrechtseingriffe unter dem Aspekt der öffentlichen Ordnung erlaubt, wie sich aus Art. 13 VII, 35 II S. 1 GG ergebe.

Dass die der öffentlichen Ordnung zugrunde liegenden Wertvorstellungen oft nur schwer ermittelbar seien, stelle keinen Einwand gegen die grundsätzliche Einbeziehung dieser Wertvorstellungen in der Gestalt des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung dar. Lediglich eine vorsichtige, restriktive Praxis bei der Feststellung der Wertvorstellungen sei angeraten. Diese Wertvorstellungen dürfen sich hingegen nicht in Widerspruch zu der Verfassung setzen.

 

b) CONTRA

Nach Pieroth/Schlink/Kniesel sei diese Berufung auf sozial-, das heiße außerrechtliche Normen nicht mit dem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat zu vereinbaren.[2] Denn die Freiheit der Bürger solle nach dem grundrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes nur durch parlamentarisch legitimiertes Recht eingeschränkt werden. Angesichts der hohen Eingriffsintensivität polizeilichen Handels in die Grundrechte der Bürger werde durch ein auf die öffentliche Ordnung gestütztes polizeiliches Einschreiten sogar der Parlaments- und Wesentlichkeitsvorbehalt berührt. Weiter dürfe in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft eine Mehrheit nicht einer Minderheit ihre Sozialnormen aufzwängen und die Polizei sich nicht als Moralapostel und Sittenwächter aufspielen.[3]

 

c) Zwischenergebnis

Durch diese beiden Positionen wird nun die Frage aufgeworfen, ob es klug ist, die öffentliche Ordnung als polizeiliches Schutzgut beizubehalten. Schenke ist zuzugeben, dass es eine Unzahl von Normen gibt, die auf allgemeine gesellschaftliche Wertvorstellungen, das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, abstellt. Es steht natürlich außer aller Frage, diese Normen, die teilweise Ausdruck einer über hundertjährigen Rechtskultur sind, abzuschaffen. Unsere Rechtskultur und unser Rechtsempfinden erkennen also grundsätzlich gesellschaftliche Wertungen in unserem Rechtssystem an.[4] Deshalb kann aus dem Gesichtspunkt der Wertungen keine Unzulässigkeit des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung abgeleitet werden.

III. FÄLLT DIE ÖFFENTLICHE ORDNUNG BEREITS UNTER DEN BEGRIFF DER ÖFFENTLICHEN SICHERHEIT?

Im Folgenden wird herausgearbeitet, inwiefern der Begriff der öffentlichen Ordnung bereits unter die öffentliche Sicherheit fällt. Denn in diesen Fällen stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit des Tatbestandsmerkmales der öffentlichen Ordnung in den Polizeigesetzen ohnehin nicht. Diese Frage wird an einigen typischen Fällen, in den das polizeiliche Eingreifen auf das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung gestützt wurde, erörtert:

§ 118 I OwiG verlangt das Vornehmen einer grob ungehörigen Handlung,

die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder gefährden und

die öffentliche Ordnung beeinträchtigt.

 

a) Die grob ungehörige Handlung nach § 118 OwiG

Nach König[5] komme dabei jede Handlung in Betracht, die objektiv jenes Minimum an Regeln grob verletzt, ohne deren Beachtung auch eine für Entwicklungen offene Gesellschaft nicht auskomme. In seinen weiteren Ausführungen verweist er auch auf die Laserdome-Entscheidung, die in der sonstigen Literatur nicht auf § 118 OwiG, sondern auf die öffentliche Ordnung in den Polizeigesetzen gestützt wurde.

Als weiteres Beispiel für eine grob ungehörige Handlung werden Äußerungen gegenüber Kontrollpersonen im Rahmen der Flugsicherheit genannt, deren pflichtgemäßes Handeln dadurch ins Lächerliche gezogen werde.[6] Weiterhin wird als grob ungehörige Handlung das Umdrehen eines Wegweisers[7], die Presseveröffentlichung unwahrer, beunruhigender Nachrichten,[8] das Verbreiten des Gerüchtes von einem Generalstreiks,[9] das nackte Herumlaufen auf der Straße,[10] Urinieren auf der Straße,[11] Versperren eines Gehweges durch eine quergestellte Parkbank,[12] Graffiti-Schmierereien,[13] aggressives Betteln[14] und das Verteilen von Flugblättern mit vorgetäuschten amtlichen Aufdruck genannt.[15] Alle aufgezählten Fälle sind auch geeignet, die Allgemeinheit zu belästigen, da sie in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten.[16]

Die oben aufgezählten Fälle können also nicht mehr unter die öffentliche Ordnung fallen, da sie alle von § 118 OwiG erfasst sind und somit der öffentlichen Sicherheit unterfallen.

 

b) Fälle unterhalb der Eingriffsschwelle des § 118 OwiG

Teilweise wird eingewandt, dass auch Fälle existieren, die unterhalb der Schwelle des § 118 OwiG angesiedelt sind.[17] Als Beispiel werden das Zeigen des nackten Körpers unterhalb der Schwelle der §§ 118 OwiG, 183 StGB (Exhibitionistische Handlungen) genannt. Hier ist zu beachten, dass die Strafbestimmung des § 183 StGB ein „Belästigen“ durch die exhibitionistische Handlung voraussetzt. Wenn allerdings keine Belästigung vorliegt, so zum Beispiel beim sozialüblichen Nacktbaden an einem FKK-Strand, ist § 183 StGB nicht einschlägig. § 183 StGB verbietet also gerade nicht die öffentliche Nacktheit, soweit sie andere Personen nicht belästigt. Wenn die Schwelle des Belästigens noch nicht erreicht ist, verbietet sich ohnehin ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung. Denn das sozialübliche Nacktbaden kann nicht als Verstoß gegen eine unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches und geordnetes Zusammenleben betrachtet werden. Denn die öffentliche Ordnung hat auch eine Eingriffsschwelle, die letzten Endes die Eingriffsschwelle von § 118 OwiG nicht unterschreitet.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass es keine Handlungen gibt, die nicht von § 118 OwiG, aber von der öffentlichen Sicherheit umfasst sind.[18] Eine Einfügung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in die Polizeigesetze ist damit sinnlos.

 

c) Die Diskussion um die Wiedereinführung des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung

Dennoch wird eine lebhafte Diskussion um die Einführung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in die Polizeigesetze der Länder geführt. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Stellungnahmen vorgestellt und bewertet.

„Dr. Gertrud Witte vom Städtetag NRW (und zugleich für den Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebund) sprach sich für die Aufnahme der öffentlichen Ordnung aus; damit könnte die Polizei ein Signal dafür geben, daß sie entschieden gegen die Abfolge von Ordnungswidrigkeit über die Kleinkriminalität bis schließlich zur Großkriminalität frühzeitig einzuschreiten gewillt ist. Sie wehre damit den Anfängen, die oft genug bei kleinen Regelverstößen und Ordnungsstörungen ihren Ausgang nähmen. Die derzeitigen Sanktionsmöglichkeiten jedenfalls reichten nicht aus, um der Störung der öffentlichen Ordnung entgegenzutreten. Im übrigen sei sie der Meinung, Kriminalprävention sei eher eine Aufgabe des Landes als der Kommunen.“[19]

Hierzu ist anzumerken, dass sowohl die Ordnungswidrigkeiten, die Klein- und die Großkriminalität ohnehin schon der öffentlichen Sicherheit unterfallen. Selbst wenn man die Existenz eines Falles, der von § 118 OwiG nicht, dafür aber von dem Begriff der öffentlichen Ordnung umfasst sei annehme, würde eine Aufnahme der öffentlichen Ordnung keinen Sinn machen. Denn nach § 1 I S. 2 PolG NRW hat die Polizei im Rahmen der Eilfallkompetenz auch Aufgaben wahrzunehmen, die in den Zuständigkeitsbereich von anderen Behörden fallen. Eine dieser Aufgaben ist die Abwehr von Gefahren gegen die öffentliche Ordnung, die nach § 1 I des Ordnungsbehördengesetzes NRW den Ordnungsbehörden obliegt. Die öffentliche Ordnung wird daher auch durch die Trennung der polizeilichen Aufgaben in Ordnungsbehörde und Vollzugspolizei lückenlos geschützt. Angesichts des selbst für § 118 OwiG in der Rechtspraxis nur geringen Anwendungsbereichs[20] wird durch die Aufnahme der öffentlichen Ordnung zwar ein Signal gesetzt, dem aber allenfalls eine politische Erklärung innewohnt und das nicht die geringste praktische Auswirkung entfaltet.

„Der Dortmunder Polizeipräsident Hans Schulze sagte unter Hinweis auf bestehende ordnungsbehördliche Verordnungen, daß  die Aufnahme des Begriffs öffentliche Ordnung in die Generalklausel und Aufgabenzuweisung des Polizeigesetzes keine relevante Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten der Polizei bedeutet“. Bewertungen im schwierigen Grenzbereich zwischen toleriertem oder als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung verbotenem Verhalten seien der Polizei schwer zuzumuten. Schulz schilderte die Dortmunder Bemühungen und Ergebnisse auf diesem Sektor: „Die Polizei in Dortmund unternimmt auf der Grundlage des geltenden Rechts vielfältige Anstrengungen, um die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Burger zu verbessern. Die vorgeschlagene Änderung des Polizeigesetzes hilft uns dabei nicht.“[21]

Der Auffassung des Polizeipräsidenten Hans Schulze ist zuzustimmen. Er erkennt, dass die Aufnahme des Begriffs der öffentlichen Sicherheit keine relevante Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten der Polizei bringt. Hilfreich wäre es gewesen, wenn solche klaren Gedanken in der Diskussion stärker fokussiert dargestellt worden wären. Weiterhin nimmt er auf eine andere polizeiliche Aufgabe, die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten (Kriminalprävention) Bezug. Problematisch an der ganzen Debatte ist, dass die Begriffe der „öffentlichen Ordnung“ und der „Kriminalprävention“ vermischt werden. Der Polizei ist es nicht verwehrt, zum Beispiel für den schnellen Austausch einer zerbrochenen Fensterscheibe zu sorgen, damit diese nicht zur Nachahmung auffordert (Broken-Windows-Theorie).[22] In diesem Falle würde die Polizei aber präventiv handeln, für eine Handlungsermächtigung durch das Schutzgut der öffentlichen Ordnung besteht kein Bedarf. Auch wenn die Polizei eine Person, die Fensterscheiben einwirft, von ihrem Tun abhält, würde sie diese von der Begehung einer Straftat abhalten, was eine Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.

IV. Gegen welche Verhaltensweisen kann der Staat durch das Schutzgut der öffentlichen Ordnung einschreiten?

Wie gezeigt kann die Polizei durch das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gegen einen Verstoß nach § 118 OwiG und somit der öffentlichen Ordnung einschreiten. Im Folgenden werden die zulässigen staatlichen Reaktionen auf die Fallgruppen des aggressiven Bettelns und das Lagern auf öffentlichen Straßen zum Alkohol- oder Drogenkonsum untersucht. Vielfach bedienen sich die Länder zur Vermeidung dieser Verhaltensweisen Gefahrenabwehrverordnungen, die sie nach den Polizeigesetzen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit (und Ordnung) erlassen dürfen, vgl. § 55 ASOG Berlin. Diese Gefahrenabwehrverordnungen dürfen allerdings nur ergehen, wenn polizeiliche Schutzgüter abstrakt gefährdet sind. Das bedeutet, dass das verbotene Verhalten typischerweise und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden der betroffenen Schutzgüter führen muss.[23]

Kriminologen, Soziologen und Angehörige der Polizei- und Kommunalverwaltungen weisen seit längerem darauf hin, dass unsoziale Verhaltensweisen (social disorders) und Anzeichen physischen Verfalls (incivilities) soziale Konflikte in den Städten auslösen können.[24] Nach der broken-windows-Theorie kann zum Beispiel eine zerbrochene Fensterscheibe in einem leer stehenden Haus zum Nachahmen verleiten. Diese Erkenntnisse werden auch von der Innenministerkonferenz geteilt. In einem Beschluss[25] aus dem Jahre 1998 führt diese aus:

„Die öffentliche Ordnung ist ein schützenswertes Gut. Im Rahmen des partnerschaftlichen Zusammenwirkens ist durch alle Beteiligten darauf zu achten, dass alltägliche, stark belastende Verhaltensweisen – wie zum Beispiel aggressives Betteln, Lärmen, Verunreinigen öffentlichen Verkehrsraums u. a. – differenziert und angemessen unterbunden sowie konsequent verfolgt werden. Das Überhandnehmen solcher Verhaltensweisen würde die subjektive Einstellung der Bürger zur Sicherheit des Alltagslebens negativ prägen. Dem ist durch eine niedrige Eingriffsschwelle entgegenzuwirken.“

Grundsätzlich ist diesen Erwägungen zuzustimmen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die identische Eingriffsschwelle des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung und des § 118 OwiG ein feststehender Rechtsbegriff ist und nicht lapidar herabgesetzt werden kann. Denn das würde gegen die allgemeine Handlungsfreiheit und gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen.

Fraglich ist nur, ob ein polizeiliches Einschreiten nach § 118 OwiG zum Schutz der öffentlichen Ordnung bei den dargestellten Verhaltensweisen zulässig ist. Sowohl aus dem Wortlaut des § 118 OwiG als auch der verfassungskonformen Auslegung folgt nämlich, dass dieser restriktiv auszulegen ist.[26] Es ist anerkannt, dass niemand gegen die unbestimmten Rechtsbegriffe in § 118 OwiG verstoßen kann, der in zulässigerweise von der Ausübung seiner Grundrechte Gebrauch macht.[27]

a) Öffentlicher Alkohol- und Drogenkonsum

Es stellt sich daher die Frage, inwiefern der öffentliche Alkoholkonsum unter Berücksichtigung der Grundrechte in nicht mehr hinnehmbarer Weise gegen die Grundregeln für ein gedeihliches Miteinander verstößt. Das Feierabendbier des Bauarbeiters am Kiosk oder das Trinken von Wein beim Picknick im Stadtpark verletzen mit Sicherheit nicht das Schutzgut der öffentlichen Ordnung.

Fraglich ist, wie ein ständiger Aufenthalt von Obdachlosen in einem Park zum Konsum von Alkohol oder eine offene Drogenszene zu beurteilen ist. Es ist in der öffentlichen Meinung anerkannt, dass öffentlicher Drogenkonsum oder das Lagern von Obdachlosen auf öffentlichem Straßenraum ein Problem darstellt. Niemand möchte solche Verhaltensweisen fördern, und sehr viele Menschen finden es störend, in einem Gebiet mit solchen Verhaltensweisen zu leben. Auch gefällt es den wenigsten Menschen, wenn ihr Hausflur neben einem Treffpunkt von Obdachlosen als Toilette benutzt wird. Als Beispiel sei die Drogenszene am Kottbuser Tor in Berlin-Kreuzberg genannt, gegen die sich die Anwohner mit einer Initiative wenden.[28] Viele Türken haben sich dieser Initiative angeschlossen; auch ist die Bevölkerungsstruktur in Kreuzberg eher dem linken/alternativen Spektrum zuzuordnen, sodass von einer gesamtgesellschaftlichen Ablehnung des offenen Drogenkonsums auszugehen ist.

Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung ist das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG der Drogenkonsumenten mit demselben Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit der Anwohner gegeneinander abzuwägen. Es ist zu berücksichtigen, dass die Anwohner wegen im Sandkasten liegender Spritzen ihre Kinder nicht mehr auf einen Spielplatz, geschweige denn alleine aus dem Haus gehen lassen können. Die Anwohner leben in der Angst, Opfer von Beschaffungskriminalität zu werden. Die Lebensqualität der Anwohner nimmt ab, da sie sich in ihrem Bezirk nicht mehr wohlfühlen. Das hat zur Folge, das sozial privilegierte Anwohner wegziehen und das soziale Engagement der Bürger in ihrem Kiez abnimmt. Bürger, die sich in ihrem Bezirk wohlfühlten, werden ihrer heimischen Umgebung entrissen. Es entsteht ein Problembezirk, der eine große Menge an sozialen Problemen schafft, die dann wieder auf Kosten des Steuerzahlers bekämpft werden müssen. Schützenswerte Interessen aufseiten der Drogenkonsumenten liegen hingegen nicht vor.[29] Selbstverständlich haben Drogenkonsum und Obdachlosigkeit auch soziale Ursachen und müssen auch im Rahmen der Gesundheits- und Sozialpolitik bekämpft werden. Für die Auslegung des Tatbestandsmerkmales der öffentlichen Ordnung in § 118 OwiG hat dies jedoch außer Betracht zu bleiben. Es kommt darauf an, ob die Handlungen grob ungehörig sind und ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen unmöglich macht.

Finger ist der Meinung, dass ein Verbot von öffentlichem Alkoholgenuss und anderen unerwünschten Verhaltensweisen nicht der Durchsetzung sozial unerlässlicher Verhaltensnormen diene, sondern ein bestimmter, gewünschter Ordnungszustand erst hergestellt werde.[30] Der Schutz der öffentlichen Ordnung sei nur auf die negative Abwehr von Störungen für ein schon vorgefundenes Schutzgut beschränkt, während die Herstellung einer „gewünschten Ordnung“ ausschließlich eine Sache des Gesetzgebers sei.[31] Deshalb kommt er im Ergebnis zu einer Unzulässigkeit polizeilichen Einschreitens im Falle von unerwünschten Obdachlosen oder Drogenkonsumenten.

Finger ist entgegen zu halten, dass ein polizeiliches Einschreiten gegen solche Personengruppen der Wiederherstellung eines von der Rechtsordnung nach § 118 OwiG gebotenem Zustand dient. Durch das polizeiliche Einschreiten gegen einen Drogenkonsumenten, der zusammen mit anderen Drogen konsumiert und dadurch eine „grob ungehörige Handlung“ nach § 118 OwiG begeht, wird nämlich gerade ein polizeipflichtiger Zustand beseitigt. Wenn es den Tatbestand des § 118 OwiG, den der Gesetzgeber wie von Finger gefordert zur Sozialsteuerung geschaffen hat, nicht gäbe, wäre Finger zuzustimmen. Denn dann würde sich die Polizei tatsächlich in den ihr seit dem Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts verwehrten Bereich der öffentlichen Wohlfahrtspflege begeben.

 

b) Kann die Straffreiheit eines Verhaltens polizeiliche Maßnahmen unzulässig werden lassen?

Bei der Diskussion, ob die Polizei gegen Obdachlose wegen eines Verstoßes nach § 118 OwiG zum Beispiel mit einem Platzverweis vorgehen kann, wird aus der grundsätzlichen Straffreiheit der Obdachlosigkeit die Zulässigkeit von polizeilichen Maßnahmen verneint.[32] Es wird dargetan, dass der Gesetzgeber im Jahre 1975 die Strafbarkeit der Landstreicherei nach § 361 Nr. 3 StGB a. F. aufgehoben und damit diesen Lebensbereich gesetzlich abschließend geregelt hätte.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 I e der EMRK der Freiheitsentzug von Landstreichern zulässig ist. Dem nationalen Gesetzgeber ist es jedoch unbenommen, Strafbestimmungen auf die Vereinbarkeit mit der ultima-ratio-Funktion des Strafrechts zu prüfen und gegebenenfalls zu entfernen. Aus dieser Maßnahme auf dem Gebiet des Strafrechts kann dann aber nicht auf eine abschließende Regelung dieses Lebensbereichs geschlossen werden.

Das folgt auch aus einem Vergleich mit dem Lebensbereich der Prostitution. Der Gesetzgeber hat zwar im Jahre 2001 die Prostitution vom Makel der Sittenwidrigkeit befreit. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 28. April 2009[33] festgestellt, dass die Sperrbezirksverordnungen nicht gegen Art. 12 GG verstoßen und damit rechtmäßig sind. Das Bundesverfassungsgericht führt dazu Folgendes aus:

„Der Erlass einer Sperrbezirksverordnung zum Schutze des öffentlichen Anstandes kann insbesondere damit gerechtfertigt werden, dass die Eigenart desbetroffenen Gebietes durch eine besondere Schutzbedürftigkeit und Sensibilität, z. B. als Gebiet mit hohem Wohnanteil sowie Schulen,Kindergärten, Kirchen und sozialen Einrichtungen gekennzeichnet ist und eine nach außen in Erscheinung tretende Ausübung der Prostitution

typischerweise damit verbundene Belästigungen Unbeteiligter und „milieubedingter Unruhe“, wie z.B. das Werben von Freiern und anstößiges Verhalten gegenüber Passantinnen und Anwohnerinnen befürchten lässt.“

 

Auch wenn die Prostitution grundsätzlich erlaubt ist, kann sie nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aus Gründen des öffentlichen Anstandes eingeschränkt werden. Diese Grundsätze müssen auch im Phänomenbereich der Obdachlosigkeit angewandt werden. Selbstverständlich ist es einer einzelnen Person aufgrund der allgemeinen Handlungsfreiheit freigestellt, als Obdachloser zu leben. Wenn sich aber ein Obdachloser so verhält, dass seine Lebensform die Schwelle der ungehörigen Handlung nach § 118 OwiG überschreitet, kann die Polizei dagegen einschreiten.

Dieselben Grundsätze gelten auch für den Alkoholgenuss von Nicht-Obdachlosen. Der Alkoholgenuss, auch der öffentliche, ist grundsätzlich erlaubt. Wenn er allerdings in ein Trinkgelage ausartet und damit das Tatbestandsmerkmal der grob ungehörigen Handlung nach § 118 OwiG erfüllt, kann dagegen polizeilich vorgegangen werden.

Auch das Betteln ist grundsätzlich erlaubt. Wenn allerdings durch aggressives Betteln (den Weg versperren, Passanten einschüchtern) in die Grundrechte der Passanten eingegriffen werden und diese zum Beispiel einen Park nicht mehr benutzen können, stellt auch dieses Verhalten eine grob ungehörige Handlung dar.[34]

[1]Schenke Rn 62; Götz § 5 Rn 1; Störmer DV 1997, 233.

[2] Pieroth/Schlink/Kniesel § 8, Rn 50.

[3] Achterberg in FS für Scupin 1973, S. 9.

[4] Fechner JuS 2003, 734, 735.

[5] Göhler-König OwiG, § 118, Rn 4.

[6] KG NStZ 87, 467.

[7] Königsberg JW 31, 1990.

[8] RGSt 25, 405; 31, 139.

[9] KG GA 37, 68.

[10] Karlsruhe NStZ-RR 00, 310

[11] BayObLGSt 21, 175.

[12] BVerfGE 26, 41.

[13] Wieser, Kommentar zum OWiG § 118, Rn 2.1.

[14] Wieser, Kommentar zum OWiG § 118, Rn 2.1.

[15] LG Hannover StV 81, 552.

[16] Göhler-König OwiG, § 118, Rn 7.

[17] OLG Karlsruhe NStZ 2000, 309.

[18] Störmer DV 1997, 254.

[18] Pieroth/Schlink/Kniesel § 8, Rn 51.

[19] Zitiert aus: Öffentliche Ordnung: Debatte über Wiederaufnahme ins Polizeigesetz. Ausschussbericht; Landtag intern, 29. Jahrgang, Ausgabe 6 vom 28.04.1998, S. 3.

[20] Wieser, Kommentar zu OWiG § 118, Rn 1.

[21] Zitiert aus: Öffentliche Ordnung: Debatte über Wiederaufnahme ins Polizeigesetz. Ausschussbericht; Landtag intern, 29. Jahrgang, Ausgabe 6 vom 28.04.1998, S. 3.

[22] Erbel DVBl. 2001, 1714, 1716.

[23] Finger DV 2007, 105, 118.

[24] Finger DV 2007, 105.

[25] IMK Beschluss zu einer „Partnerschaft für mehr Sicherheit in unseren Städten und Gemeinden“ vom 2.2.1998.

[26] Möller/Wilhelm Rn 97.

[27] Wolffgang/Hendriks/Merz Rn 74.

[28] http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=ba&dig=2009%2F02%2F19%2Fa0151&cHash=0b4849c9f7 „Fixer sollen sich verdrücken“, Artikel vom 19.2.2009, abgerufen am 20.5.2009.

[29] Fechner JuS 2003, 734, 735, 736.

[30] Finger DV 2007, 105, 114, 115.

[31] Finger DV 2007, 105, 111.

[32] Schenke Rn 66.

[33] BVerfG, 1 BvR 224/07 vom 28.4.2009.

[34] Fechner JuS 2003, 734, 735.